Die Handlung in ganz kurz wie ich sie verstehe
Der Nürnberger Schuster und Poet Hans Sachs sorgt dafür, dass die
junge Nachbarstochter Eva den richtigen Mann bekommt. Sie (mitsamt beachtlichem
Erbe) wird nämlich von ihrem Vater als Preis gestellt für den Sieger
des Meistersinger-Wettbewerbes, der alljährlich zum Johannisfest stattfindet.
Rechtzeitig zu diesem Ereignis (ungefähr einzwei Tag vorher) verliebt sie
sich in einen jungen Ritter, der zwar genial ist und siegesgewiss in Nürnberg
und Evas Herz einzieht, aber jenseits aller Regeln des Meistergesanges völlig
ungeschult seine Kunst aus dem Herzen improvisiert. Das ist ein Problem, denn
Evchen darf nur einen Meistersinger heiraten, sonst nie niemanden. Bei dem turbulenten
Hin- und Her (es ist schließlich Wagners komische Oper) schafft es Sachs,
seiner Sehnsucht auf die Spur zu kommen, das schöne Kind selbst zu freien,
und diese Sehnsucht bewusst zurückzustellen. Es gelingt ihm, den einzigen
offiziellen Konkurrenten auszuschalten, nämlich Stadtschreiber Sixtus Beckmesser
(den wir aus dem Sprichwort kennen) und Junker Walther von Stolzing zum Meisterlied
und damit zu Eva zu verhelfen. Er erringt den größten Sieg seines
Lebens, nämlich eine innere Meisterschaft.
Meisterstunden mit einem Meistersinger
Wolfgang Brendel als Hans Sachs
Gesätz I: Opern sind Spiegel
I. „ Gegen den halten Sie Ihr Herz fest, in den werden Sie sich verlieben!“
Wenn das kein Zeichen ist: Mehrere Opernfreunde gleichzeitig spielen mir drei
Karten für die Meistersinger in die Hände, und das nach meiner jahrelangen
konsequenten Verweigerung.
Ausgerechnet zu einer Wiederaufnahme der umstrittenen Konwitschny-Inszenierung,
in der die Meistersinger den berühmten Schlussgesang des Sachs unterbrechen
und diskutieren, ob das denn nun noch zeitgemäß sei, was er da singt,
wegen Heil und deutsch und Reich – doch sei es drum, es ist die Gelegenheit,
mich noch einmal an diese Oper zu wagen, die mich bisher eben langweilte (…?!…)
Zur Vorbereitung des Hamburger Opernspektakels krame ich in meinen Videos, weil
ich dunkel erinnere, dass ich einen Mitschnitt habe, in der zumindest der Sachs
ganz eindrucksvoll war. Was damals aber nichts half.
Da ist sie. Deutsche Oper Berlin, 1995. Inszenierung Götz Friedrich. Für
Kenner mag es Schnee von gestern sein, aber ich lebe ja in meiner eigenen Opern-Zeitrechnung
mit einem sehr persönlichen Zugang: Nun, der Regisseur Friedrich ist mir
natürlich schon ein Freund wegen seiner Salome mit der Stratas und auch
seiner Elektra (aber das sind weitere Geschichten). Und Sachs? Wolfgang Brendel
singt ihn. Mit dem habe ich grad intensive Opernstunden genossen, weil ich ein
Vierteljahr im Arabella-Fieber war und er an
Kiri te Kanawas Seite den Mandryka singt. Er macht auch in der Strauss Oper
Eindruck mit den vielen kleinen Gesten und leise noblem Auftreten und irgendwie
immer ein Déjà vu im Raum. Ja, der ist der Sachs aus dem Fernsehabenteuer
von vor rund neun Jahren.
Die Friedrich-Inszenierung: Sie ist von Anfang bis Ende schlüssig, seelisch
tiefgründig und oft wirklich komisch. Im Ganzen gelungen spielerisch, wie
von leichter Hand.
Ein durchlässiges Bühnenbild, keine biederbürgerliche Mittelalterenge,
kein Pomp und Ballast. Dennoch einzuordnen: Nürnberg, Kirche, Gasse, Schusterstube,
Festspielplatz – die 1945er Bombenbezüge bleiben diskret im eingeblendeten
Hintergrund und Gottseidank tummelt sich das Opernpersonal weder auf einer Insektenwiese
(Hamburg) noch um eine Mister-Minit-Bude in Karstadt (Wahn in meinem Kopf, hiermit
vorsichtshalber urheberrechtlich geschützt). Die Kostüme sind irgendwie
zeitlos, ein bisschen wie heute, aber auch ein bisschen wie 16. Jahrhundert
und ein bisschen wie 19. Jahrhundert. Auf jeden Fall ist gut zu erkennen, wer
was ist, wer Meister, wer Bursche, wer Volk. Wer Mann, wer Frau insbesondere,
aber davon später. Die Musik wird kammermusikalisch durchsichtig dirigiert,
ich höre Feinheiten und verstehe so gut wie jedes Wort (das ist nämlich
gar nicht selbstverständlich). Und dann einer dieser Glücksfälle:
Alle, die dort auf der Bühne stehen, spielen mit. Jede Sekunde sind sie
Charakter, jeder Meister hat sein Gesicht, vor allem seine Marotte, jeder Lehrbub
seine Freude. Hier insbesondere eine kleine Bubin, die so beglückt ihr
Spielen spielt, dass nur sie zu beobachten eine Runde Operngucken rechtfertigt.
Ich starre auf den Fernseher und frage mich, wie es sein kann, dass ich damals
nicht begriffen habe, was für ein Wunder sich auftut. Jetzt verstehe ich,
warum Wagner Mathilde Wesendonck schreibt, sie solle ihr Herz festhalten. Diese
Inszenierung und dieser Sachs-Sänger reichen mir den Schlüssel für
die Meistersinger und jetzt kann ich ihn nehmen.
Jetzt bin ich so alt wie Brendel alt war, als er den ’95er-Sachs singt.
Ich stricke auf dem Opernsofa den Volljährigkeits-Pullover für mein
drittes Kind. Mit jeder Masche verwebe ich Meistersingerklänge und Meisterweisheiten,
auch viel Lachen. Vor allem eine Menge Tränen (ach, dieser Wagner). Ob
Mann, ob Frau, immer wieder heißt es Abschied nehmen von selbstverständlicher
Identität, von Menschen, Rollen, Sehnsüchten. Kinder werden groß,
Erotik will wieder neu definiert werden und Beziehungen haben in jedem Alter
ihre anderen Aufgaben. Auf-Gaben eben. Midlifecrisis, Wechseljahre sind schlichtweg
verkürzende Modeworte für eine innere Entwicklung, die wahrlich gemeistert
sein will.
II. „Euch macht Ihr’s leicht, mir macht Ihr’s schwer“
Fangen wir kurz vor dem Ende an, dritter Aufzug, sechste Szene. Der Schuster
und Poet steht auf der Festspielwiese, nachdem er wie wohl immer auf den letzten
Drücker eingetroffen ist. Rundherum versammeltes Volk, Zünfte, Burschen
und Meister und eben Eva Pogner nebst Papa Pogner. Nach Verbeugung vor der zukünftigen
Braut (Gänsehautmoment) will Sachs seine Aufgabe erfüllen und als
Sprecher der Singerzunft den Gesangswettbewerb eröffnen. Da erheben sich
alle und stimmen einen seiner Choräle an „Wach auf, es nahet der
Tag“. Sie ehren ihren größten Dichter und Meister, Evchen darüber
hinaus sein Bemühen um ihr Liebes-Glück (was alle anderen ja nicht
wissen). Er senkt den Kopf. Er nimmt die Ehrung entgegen. Es ist deutlich, bei
aller Popularität ist dies nicht sein Ding. Im Mittelpunkt stehen. Gar
so offiziell. Und schon gar nicht unter diesen Umständen. Seine Haare sträuben
sich in alle Richtungen, sein Festtagsrock ein wenig schlampert, das trennt
nicht so von Schusterschürze und der bequemen Strickjacke und Brille vorn
auf der Nase. Wie wir ihn ja doch kennen seit über vier Stunden. So hat
er das erste Mal die Bühne betreten: auf den letzten Drücker, den
Ausgehrock für die Meisterversammlung ein wenig schlampert, Haare schon
ein bisschen in alle Richtungen, nicht ganz bei der offiziellen Sache, immer
ein Notizbuch in der Hand, Einfälle notierend. Ein Dichter eben. Freundlich.
Humorvoll. Im rechten Moment höchst aufmerksam. Im anderen rechten Moment
auch leicht aufbrausend, aber zumeist gelassen. Verbindlich. Bei aller Gemütlichkeit
doch glasklar. Eine Autorität, wenn er will. So ist er. Zu Beginn.
Jetzt hält er den Kopf gesenkt. Keine kokette Bescheidenheit, sondern
Ergebenheit. Demut. Auch unbehaglich ist ihm. Und traurig wohl (ich jedenfalls
löse mich schier in Tränen auf, als ich es das erste Mal sehe). Für
das Festtagspublikum ist er einfach der Sachs, den sie kennen und lieben. Doch
die Meisterschaft, die sie ehren, ist mehr als doppelbödig. Sie macht öffentlich,
was in ihm einen langen Weg durch Kopf, Herz, Körper und wieder Kopf genommen
hat. Was er innerlich in vielen kleinen Schritten erreicht hat, wird hier nach
außen manifest: der bewusste Verzicht auf Evchen, der bewusste Eintritt
in einen neuen Lebensabschnitt, die bewusste Selbsteinschätzung. Kein Genie.
Kein Ehemann einer jungen Frau. Anerkannter Meister, eine Institution. Schuster
und Poet.
Er weiß ja schon zu Beginn des dritten Aufzuges, dass es so kommen wird
(das erzählen uns die wunderschöne und melancholische Musik und vor
allem die Motivverknüpfung).
Da sitzt Sachs nämlich nach ereignisreicher und dann durchwachter Johannisnacht
in seiner Schusterstube und hat einen ersten Bodensatz erreicht. Er ist aus
dem Rennen, weil er sich bewusst gegen das Rennen entschieden hat. Eva hat ihren
Adam gewählt hat, der ausgerechnet das junge Genie ist, das ihm seine Grenzen
aufzeigt. Der Verzicht auf das junge Mädchen geht durch mehrere Erkenntnis-Etappen,
ist folgerichtig, vernünftig, natürlich. Tapfer. Weise. Vor Schmach
und Schmerz schützend. Alles richtig. Dass es so ein Kampf wird, das hat
er nicht gewusst. Und dass es so weh tut, das hat er auch nicht gewusst.
Zurück zur Festtagswiese, der Kopf ist noch gesenkt. Jetzt kommt das Finale.
Seine Niederlage ist sein Sieg und umgekehrt. Wenn er dann singt: Euch macht
Ihr’s leicht und mir macht Ihr’s schwer, so gilt das auch im Spiegel:
Euch mach ich’s leicht und mir mach ich’s schwer. Und: dass ich
es mir schwer mach, macht es leichter. Denn das Schwere mache ich mir leichter,
in dem ich es bewusst mache. So bewahrt er Würde und bündelt seinen
Schmerz zu Energie, mit der er den Junker zu einem Meistersinger schult (in
weniger als einer Stunde!). Das ist eine unsichtbare Meisterleistung, mit der
er sich und seine Qualitäten in neue Höhen führt und doch so
menschlich bleibt.
Das ist einer der ganz kostbarer Opernmomente: Wolfgang Brendel gelingt es,
in den gesenkten Kopf meine Quintessenz der Oper zu legen. Er ist so gut in
kleinen Gesten, die aus einem ganz tiefen Ort geboren sein müssen. Immer
wieder zeichnet er mit Gesicht, Körper und Stimme Miniaturbilder, die alles
enthalten: Anfang, Ende und den Weg dazwischen.
Jetzt zum wirklichen Ende des Endes. Wagner stellt sich das folgendermaßen
vor (seine Regieanweisungen sind sehr ernstgemeint und unweigerlich wertvoll
aber manchmal auch eine Fundgrube): Während das Volk ihm zujubelt, nimmt
Sachs mit Stolzings Preiskranz im Haar die Huldigung entgegen, das junge Paar
lässt zur Rechten und Linken die Köpfe auf seine Schulter sinken,
während der Vater der glücklichen Braut dankbar vor ihm kniet. Beckmesser
ist nach der öffentlichen Niederlage vor Hohn und Spott geflohen. (Das
ist natürlich Wagnerbiografisch ein Leckerbissen, wenn man die Gleichung
zulässt: Sachs = Wagner, Beckmesser = Hanslick, sein ärgster Kritiker.)
Heute ist die Aufführungspraxis versöhnlicher, meist jeder Sachs
reicht dem Stadtschreiber in irgendeiner Form die Hand und lässt sich auch
den Blumenkranz als Siegersymbol nicht einfach aufdrücken, so leicht kann
man es dem Paar nicht machen. Brendel als Sachs aber geht weiter. Sein Blick
in Evchens Augen, während er die Hände abwehrend erhebt (erst mal
etwas ungläubig, darunter ein bisschen freundlich verlegen und darunter
könnte glatt etwas Wut liegen), also während er den Kopf schüttelt
und vor dem Kranz und ihr zurückweicht, dieser Blick lässt wohl die
junge Frau in einer Art Erkenntnis ankommen.
Sie kehrt um zu ihrem Junker, fällt ihm in die Arme, doch es gibt ein Zögern.
Wenn meine eine Opernfreundin neben mir auf dem Sofa trocken anmerkt, dass Ehepaar
Stolzing möglicherweise in seinem Schlafzimmer nicht allein sein wird,
könnte sie Recht haben.
Während Evchen den Siegessreisig zurück zum Junker trägt und
ihm dann auch die Meisterkette um den Hals legt, geht Sachs auf Beckmesser zu:
Dieser hat schon wieder schön Wetter bei den Meisterkollegen gemacht und
wichtige Erklärungen abgegeben. Aber die rasche Rehabilitation vor allem
vor sich selbst (Beckmesser ist psychisch nicht so kompliziert, weil immer die
anderen Schuld haben) ändert nichts daran, dass er öffentlich eine
furchtbare Niederlage erlitten hat. Er steht durchaus wacker aber einsam am
Rande des Geschehens, als Sachs zu ihm kommt und die Hand bietet.
Das ist ja nun, wie wir in unserer Zeit wissen, nichts besonderes, insbesondere
weil Beckmesser als Ehrenmann schon seine anerkennende Verbeugung vor Sachs
(!) gleich nach Stolzings erfolgreichem Liedervortrag gemacht hat. Grad vor
dem Schuster, der ihn mit dem unleserlichen und unverständlichen Text hat
ins offene Messer laufen lassen. Da ist diese anerkennende Geste anständig
und menschlich herzerwärmend. Doch dann überrascht Sachs ihn (und
uns) mit einem arg heftigen Schulterschlag, bricht in ein schräges Gelächter
aus, das auch ein wenig nach trockenem Heulen aussieht, und mit dem ganzen Körper
ein Nein schüttelnd macht sich der Schuster und Poet irgendwie leicht taumelig
und diffus in die Runde winkend aus dem Staub, als das begeisterte Volk begeistert
sein Heil Sachs anstimmt.
Beckmesser bleibt, Sachs flüchtet, dieses Ende ist geniale Regie und hochsensible
Darstellung. Ist er einfach heilfroh, dass die Schlacht geschlagen ist? Für
beide Herren Meistersinger - denn hat der Herr Stadtschreiber nicht nur öffentlich
ausgelebt, um was der anerkannte Volkspoet innerlich gerungen hat? Mein Gott,
war Beckmesser mutig, mit diesem Unsinn in den Ring zu steigen. Um ein Haar
hätte Sachs da selbst gestanden und um das hübsche Ding gesungen.
Da rettet sich der Dichter in Hauruck-Humor: Das haben wir beiden Alten doch
nun hinter uns gebracht, es lebe das junge Glück und wir auch … und
nun aber SchlussAusEnde, auf nach Haus, endlich allein sein und sich neu einrichten
in der Schusterstube, im Innern, im Leben. Das Herz wieder in einen heilen Rhythmus
bringen nach all der Aufregung … einen neuen Schwank schreiben. Es bleibt
offen und kann auch ganz anders sein. Jedes Mal, wenn wir es sehen, wird es
anders sein. Weil wir halt nur erkennen, was wir kennen. Und kennen wollen.
III. „Wahn! Wahn! Überall Wahn!“
Also: wir erkennen nur, was wir kennen und was uns bewegt. Nicht nur die ganze
Welt ist unser Spiegel (und vor allem die schrecklichen Nachbarn), sondern eben
auch eine Oper. Der Schöpfungsprozess einer jeden Kunst ist ein Spiegelprozess
– wer meint, Wagner sei egomanisch, hat durchaus Recht. Wagner war es
ohne Zweifel. So umfassend, wie es umfassender nicht sein kann, war er nicht
nur die ganze Welt sondern Kosmos. Darum eignet er sich schamlos noch jede Geschichte
und jede historische Figur genau so an, wie er sie zur Darstellung seiner inneren
Einsichten braucht. Es mag Sinn machen, Sachs als aufrechten Fürsprecher
des Volkes und Modernisierer der Kunst und aufgeklärten Reformer zu inszenieren
(der Ehren-Choral ist ein Original-Gedicht vom historischen Sachs zu Ehren Luthers).
In jüngeren Jahren und als Kind der 68erZeit hätte ich begeistert
solche Bezüge hergestellt und entsprechende Inszenierungen gespannt verfolgt.
Nun stehe ich woanders, kenne von Lebensmüh bedrängte Geister in
mir, bin Spiegelexpertin geworden und suche Innenwelten.
Diese Inszenierung bietet sie mir: Brendel-Sachs spricht meist und vor allem
von sich. Fliedermonolog, Wahnmonolog und Festwiesenansprache sind eben auch
innere Stationen.
Nürnberg steht als beruhigende Handwerker- und Bürgerstruktur für
den Schuster Sachs. Seine Poetenseele spricht von deutsch und echt und meint
die heilend transformierende Kraft der Kunst als Antithese zur welschen Lebensart.
Mag sein, dass die Fürsten lieber anständig regieren sollten anstatt
sittlich moralisch zu verkommen. Aber auch wir Volk und Meister schlagen gern
über die Stränge: wenn z.B. ältere Frauen junge Männer füttern
oder ältere Männer junge Frauen freien, ob wegen Heirat oder Geld
oder Lust oder Sehnsucht. Ob ungeniert ganz öffentlich oder verborgen in
der eigenen Brust - was macht den Unterschied?
In der Schlussansprache bringt eine kleine Herzattacke unseren Schuster sichtbar
ins Straucheln, hinein in das „Hab acht! Uns dräuen üble Streich’“
. Den Griff zum Herzen hatten wir schon: In der Dämmerung zwischen Johannisnacht
und Johannistag während der wunderschön melancholischen Musik des
Vorspiels zum dritten Aufzug trägt uns Brendel wieder im Detail durch Sachsens
tiefe Selbstbegegnung. Wenn er sich dann auch noch die linke Schulter reibt,
sind wir mitten drin: Eine kleine Geste für einen großen Herzschmerz.
Die komische Oper achtet aufs Gleichgewicht. Wie gut, dass jetzt der Lehrbursche
David voll des schlechten Gewissens ob der nächtlichen Prügelei frischen
Wind bringt. Aber Uwe Peppers hinreißend komisches Spiel ist ein Intermezzo.
Ein nottreibendes, denn durch ihn findet Sachs einen Weg zu seiner Not. Wenn
David nämlich verzeihende Nähe des Meisters sucht, hüpft er nicht
von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen, sondern springt direkt in die Wunden.
Unbekümmert seine Liebesfreuden mit der Jungfer Lene preisend steigert
er sich zu dem gut gemeintem Rat: „Meister, ach Meister! Ihr müsst
wieder frein!“
Sachs ist ein guter Lehrmeister. Er hält sich bedeckt und murmelt weise
Worte. Aber kaum allein bricht es aus ihm heraus: „Wahn! Wahn! Überall
Wahn!“. Wo? Warum? Wie?
„Wohin ich forschend blick’
in Stadt- und Weltchronik,
den Grund mir aufzufinden,
warum gar bis aufs Blut
die Leut’ sich quälen und schinden
in unnütz toller Wut!“
Die Leut, das ist immer nur ein Umweg zu sich selbst:
„Hat keiner Lohn noch Dank davon:
in Flucht geschlagen,
wähnt er zu jagen.
Hört nicht sein eigen Schmerzgekreisch,
wenn er sich wühlt ins eig’ne Fleisch“.
Weltschmerz ist Herzschmerz, Wahn überall will gemeistert werden, vor
allem in uns. Sachs beruhigt sich mit einer Dosis Fensterblick auf sein liebes
Nürenberg und bündelt damit seine sich grad auflösende Autorität.
„Doch eines Abends spat,
ein Unglück zu verhüten,
bei jugendheißen Gemüten,
ein Mann weiß sich nicht Rat:
ein Schuster in seinem Laden
zieht an des Wahnes Faden.“
Bei wem? Er weiß es und kommt schließlich mutig dort an, wo die
Musik schon spielt: „Ein Glühwurm fand sein Weibchen nicht; das hat
den Schaden angericht’t.“ Und wenn er dann singt: „Der Flieder
war’s: Johannisnacht“, dann wissen wir, wovon er spricht: Glühwürmchen
Beckmesser bekommt die Prügel, Glühwürmchen Sachs aber muss den
Wutesbrand innen löschen.
Die äußeren Tumulte spiegeln des Schusterpoeten inneren Tumulte,
jeder Aufzug endet mit einem. Im ersten Aufzug ist große Aufregung und
großes Durcheinander in der Meistersingschule, weil der Junker so gegen
alle Regeln singt, dass die erhabenen Meister ihn unter dem Gejohle der Lehrbuben
lauthals niedermachen. Ende des zweiten Aufzuges haben wir die prächtige
Johannisnacht-Prügelei in Nürnbergs Gassen, und, wie großartig!,
die Meister mittendrin. Und Ende des dritten Aufzuges haben wir Sachs mit gesenktem
Kopf. Dieser Tumult ist innen und bleibt unsichtbar …
Innen wie außen, oben wie unten, groß wie klein: Wagner hat die
Spiegelfunktion nicht erklärt. Er hat sie gestaltet.
Gesätz II: Wenn viele mitspielen, spielt sich bei vielen viel ab
I. „Ein Junggeselle muss es sein.“
Vom Ende zum Anfang der Tumulte: Als Sachs in der dritten Szene des ersten
Aufzuges am Vortag des Johannisfests zur Katharinenkirche eilt, ahnt er nichts
Böses. Es wird sicherlich wie immer sein, ein bisschen dies und das mit
den altvertrauten Meisterkollegen, ein bisschen Geplane für das Volksfest
morgen, schließlich haben die Singer dort ihren traditionellen Auftritt,
vielleicht eine Freiung. Kollege Kothner macht sich wichtig wie immer an seine
Aufgabe, alle aufzurufen: sind ja alle da, stocksteif der eine, ein bisschen
dümmlich der andere, Kupferschmied Foltz wird immer schwerhöriger
und Strumpfwirker Schwarz mümmelt wie gehabt an seinen Brezeln.
Wäre unser Sachs nicht so versunken in sich (wer weiß, vielleicht
geht ihm die verzwickte Stelle im zweiten Stollen seines neuen Gedichtes nicht
aus dem Kopf, wo doch der Abgesang schon so rund ist, wer weiß schon,
was in ihm vorgeht), also wäre er nicht so versunken in sich, wäre
ihm vielleicht aufgefallen, dass die Lehrbuben heute sehr unruhig sind. Auch
David ist seltsam brustgeschwellt und Beckmesser eine Spur nervöser als
sowieso schon. Ach, der Kollege Beckmesser – schwer haben es die kleinen
Männer eh, und dann noch einziger Nichthandwerker unter lauter Handwerkern.
Der Scheitel messerscharf wie immer, aufgeräumt eine kleine Begrüßungsspitze
zu Kollege Sachs geschossen, intelligent ist er und einen ganz besonderen Witz
hat er auch, der Herr Stadtschreiber - ach doch, eigentlich ist alles wie immer.
Und nun setzt Nachbar Pogner an zu einer langen Rede von wegen Johannisfest.
Ist ja nett, der gediegene Nachbar, korrekt, verlässlich konservativ, ein
bisschen langweilig. Kein Wunder, dass Evchen von klein auf da gern beim Schuster
sitzt, aufgewecktes Kind, eine schiere Freude. Keine Mutter, aber zwei Väter,
dem Kind mangelt es nicht an Zuwendung. Pogner ist schon bei Lieblingsthema
Nürnberg, richtig, jetzt kommt noch das Ansehen der Meisterkunst. Alles
ist wie immer. Aber was redet er denn jetzt? Einen Preis will er aussetzen,
einen richtig großen. Was? Eva?
Sachs stockt einen Moment das Herz: Eva als Preis? Und dann noch mit dem großen
Batzen Geld? Donnerschlag, das wird die Schmeißfliegen locken. Jetzt ist
Sachs hellwach. Und nicht nur er. Die Meister gockeln in heller Aufregung umeinander.
Und was ist denn mit dem Beckmesser: Herrje, er wird doch nicht …? Doch,
er wird! Der will ran an die Mitgift und das schöne Kind, Sachs muss es
schützen vor knochentrockner Meisterwahl: „Ein Mädchenherz und
Meisterkunst erglühen nicht stets in gleicher Brunst“. Besser, das
Volk kürt den Sieger, die sind näher am jungen Mädchen und seinen
Gefühlen, nicht so tabulatorverdorben, sondern glücklicherweise unbelehrt.
Die Lehrbuben sind begeistert, aber dem Pogner ist es des Neuen zu viel und
die übrigen Meister geraten in noch größere Aufregung. Damit
kommt Sachs nicht durch. Sei’s drum, gewohnt gelassen lenkt er ein. Es
ist noch nicht aller Tage Abend.
Doch da sitzt ihm etwas in der Brust, ein kleiner Schmerzkeim, für uns
durchaus schon sichtbar, wenn er tief Luft holen muss beim Brille-von-der-Nase-nehmen.
Auch Beckmesser ist geübt im Wittern von Gefahr. Sachs als Brautwerber
mit dem Volk als Richter wäre eine große Gefahr, steht der Schuster
und Poet in der Gunst unangefochten oben. Als dann der Vorsitzende Kothner fragt:
„Wer schreibt sich als Werber ein? Ein Junggesell’ muss es sein“,
schiebt der Stadtschreiber sofort hinterher: „Vielleicht auch ein Witwer?
Fragt nur den Sachs!“ Der antwortet spontan: „Nicht doch, Herr Merker!
Aus jüng’rem Wachs als ich und Ihr muss der Freier sein“. Der
Schuster stellt die Weichen.
Jetzt läßt sich noch ruhig und im Brustton der Überzeugung
verkünden, was in Folge tief errungen werden muss. Ohne zu ahnen, in welche
Tiefen er geraten wird beginnt in diesem Moment der lange Weg zu dem solidarischen
Schulterschlag am Ende der Oper.
II. „ein Meistersinger möcht’ ich sein.“
Doch zurück in die aktuelle dritte Szene: Pogner hat noch etwas aufzuwarten.
Einen Junker stellt er vor, der Meistersinger werden will. Was für ein
Tag! Und Sachs kann nicht wissen, was wir wissen, weil er immer so spät
kommt und beim Gottesdienst war er auch nicht. Wir aber sind schon zwei lange
Szenen länger dabei.
Spannende Informationen haben wir ihm voraus, denn Junker Stolzing hat gleich
zu Beginn der Oper seinen ersten stürmischen Auftritt. Mitten hinein in
den Gottesdienst und in den Choralgesang zu Ehren Johannes des Täufers
ist er des Herzens so voll, dass er gegen alle Regeln die schöne Goldschmiedtochter
etwas Dringendes fragen muss. Er setzt zwar an mit „Ein Wort! Ein einzig
Wort!“ braucht dann allerdings ziemlich viele Wörter, denn er hat
ein Problem: er kann sich nicht kurz fassen. Er kann einfach nicht normal reden!
Was er fragen will, ist: „Seid ihr schon Braut?“ Singen aber hören
wir ihn:
„Fräulein! Verzeiht der Sitte Bruch!
Eines zu wissen, eines zu fragen,
was müsst’ ich nicht zu brechen wagen?
Ob Leben oder Tod, ob Segen oder Fluch?
Mit einem Wort sei’s mir vertraut:
Mein Fräulein sagt - “
Und schon wird er von Jungfer Lene unterbrochen, deren Aufgabe es ist, ein
wachsames Auge auf Evchen zu halten. Er wird übrigens die ganze lange Oper
ständig unterbrochen, im Werben, im Singen, im Fortlaufen und in Entschlüssen.
Und wenn er am Ende genau weiß, was er nicht will, hat Sachs für
die erzieherische Bündelung der adligen Sprachgewalt ganze Arbeit geleistet.
Stolzing braucht mit zärtlichem Blick auf Eva genau acht klare Worte: „Nicht
Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!“ Dass er auch darin unterbrochen
wird durch Sachsen berühmten Schlussgesang und fünf Minuten später
Meister ist, bestätigt mehr als das Gesetz der Serie. Es ist der Beginn
einer weiteren womöglich lebenslangen Schulung. Nun ist er Ehemann einer
sehr selbstbewussten und eigenwilligen jungen Frau in einer ihm fremden Bürgerwelt.
Aber das ist zu Beginn in weiter Ferne. Jetzt muss Stolzing erst einmal seine
Frage rausbringen, was ihm im dritten Anlauf schlussendlich gelingt. Allein
die Antwort ist sehr verwirrend. Ja, Braut ist Evchen durchaus, aber „den
Bräut’gam wohl noch niemand kennt“. Wer das sein wird, entscheidet
sich erst Morgen, beim Johannisfest. Seine Erwählte ist der Preis für
den besten Meistersinger, vorausgesetzt, sie will ihn. Soweit hat der Vater
sich Gedanken gemacht über das Seelenheil seiner Tochter: Ablehnen darf
sie den gekürten Sieger, aber nie einen anderen wählen.
Erstaunlich, das junge Mädchen ist bei dieser seltsamen Sachlage hochgradig
vergnügt. Ihr scheint das Spaß zu machen, sie glüht von innen
und strahlt dem jungen Mann in Aug und Herz. Ihm aber macht das Druck, er hat
keine Ahnung, wie das nun geht, ein Meister sein. Und dieses „nie“,
das ist gewaltig. Wäre es ein grundsätzliches, hieße das, Hauptsache
Meister. Wenn Morgen keiner dabei ist, der ihr gefällt, eben nächstes
Mal. Unter solchen Bedingungen aber könnte Junker Stolzing ein Jahr üben
und die Oper würde ausfallen.
Nein, er hat keine Zeit zu üben. Stolzing muss heute, jetzt, sofort ein
Meister werden, um einen Tag später in die Arena steigen zu können.
Nun kommt ihm die Selbstverständlichkeit seines Adels zu Gute. Seine hohe
Geburt und Ritterausbildung zu Minnekampf sind ihm in Fleisch und Blut. Angst
hat er nicht zu haben. Auch keine Zweifel.
Jungfer Lene ist da bodenständiger. Sie spannt flugs ihren Liebsten David
ein, der sie nicht nur anbetet, sondern auch noch Lehrjunge beim berühmten
Sachs ist. Der soll den Junker mal tüchtig vorbereiten. Das lässt
David sich nicht zweimal sagen. Er wirft sich mächtig in die Brust und
gibt alles von sich, was er in einem Jahr gelernt hat. Da purzeln Schuhmacherhandwerk
und Dichterwerkstatt munter durcheinander. Und so unendlich viel gibt es zu
lernen, zu üben, zu beachten. Viel zu viel für einen frisch verliebten
Ritter, der gar nicht richtig zuhören kann (ich empfehle das Zuhören
allerdings sehr: eine Feinschmeckerszene, nochmals Lob an Uwe Pepper, dem es
prachtvoll gelingt, dass es ziemlich viel Gesingelang nicht langweilig wird!).
Das ist übrigens Stolzings erste Belehrung, er bekommt derer drei. Diese
hier hilft gar nichts außer dass wir die Größe der Liebe daran
ermessen können, dass der junge Mann nicht schnellstens abhaut. Eines allerdings
hat er begriffen: er muss den Meistern etwas vorsingen, und das kann nur gelingen,
wenn er zum Vers auch den eig’nen Ton findet. Na, das wäre doch gelacht!
Er erwartet voll des Siegesmutes die Meisterversammlung und stellt bei Pogner
den Antrag auf Freiung, der grad mit einem kleinen seltsamen Mann in ein Gespräch
vertieft die Singschule betreten hat.
Dem Goldschmied kommt das ganz recht, denn der in den Tochterhandel eingeweihte
Stadtschreiber Beckmesser hat schon den Fuß in der Tür und bittet
grad um intensive Fürsprache des Vaters bei jung Töchterlein. Wenn
Vater Pogner im Rahmen aller Höflichkeit auf dem Mitspracherecht des jungen
Mädchens beharrt, mag das (hoffentlich!) ein erster Anflug eines schlechten
Gewissens sein. So viel Kandidaten gibt die Meisterversammlung nicht her. Beckmesser
ist kein Traum-Schwiegersohn, ein solider Bewerber muss her. Dieser Junker wäre
keine schlechte Alternative: bringt schlichtweg nicht nur blaues sondern auch
frisches Blut und man kennt sich aus soliden Verkaufsverhandlungen um des Junkers
Besitz. So präsentiert er dann hoffnungsfroh den versammelten Meistern
den ungewöhnlichen Bewerber um eine Freiung zum Meistersinger.
Sachs bleibt wenig Zeit, den inneren Rührungen nach Beckmessers Messerspitze
in die Evaliebe auf die Spur zu kommen, denn flugs baut sich dieser junge Rittersmann
mutigtrotzig auf und bietet der Meisterübermacht seine adlige Selbstverständlichkeit.
(Ein kleiner Ausflug zu Gösta Windbergh. Der Sänger ist von der Statur
nicht nur stattlich sondern auch ein wenig klobig. So wirkt er bei aller Agilität
sympathisch unbeholfen, das moduliert Feinheiten. Er nutzt sein sensibles Gesicht,
Verletzlichkeit und Erstaunen über die moderne Welt zu zeigen, und auch
unwirsches Misstrauen und leichte Bockigkeit sind eingeschrieben. Das tut der
Rolle gut, mal abgesehen davon, dass er sie singen kann.)
Doch zurück ins Bühnengeschehen. Nun ist der junge Mann über
die ihn verwirrende Verliebtheit hinaus wirklich „ein merkwürd’ger
Fall“. Er ist arg weltfremd, kommt nicht nur von seiner einsamen Burg
in die moderne Stadtwelt runtergestiegen, sondern auch aus einer Minnesang-Vergangenheit
mitten hinein in die bürgerlichen Sangesregeln. Die haben zwar sehr wohl
miteinander zu tun, birgt die Troubadourkunst doch die Wurzeln der Meisterkunst.
Den Meistern aber scheint diese Verbindung unter einem Wust von Gesätzeswerk
arg in Vergessenheit geraten sein.
Stolzing trägt noch Sturm und Drang in sich, archaisches Ungestüm
und poetische Blütenpracht führen vor dem Singgericht erneut zu allerhand
Aufregung: Wenn Bäckermeister Kothner ihn fragt: „Welch Meisters
seid Ihr Gesell’?“, antwortet er nicht etwa: der hochwohlgeborene
Haushofmeister Hinz von Kunz war mein Lehrer, sondern er gibt wieder mit langem
Anlauf innig beseelt einen Dichtermeister preis: Walther von der Vogelweide.
Sachs horcht auf: „Ein guter Meister!“ – aber Beckmesser kontert
messerscharf: „Doch lang schon tot“. Recht hat er, und Stolzing,
der im Werbungsritual ritterlich keine Herausforderung scheut, gibt sofort seine
gegenwärtigen Gesangslehrer zum Besten:
„Wenn dann die Flur vom Frost befreit
Und wiederkehrt die Sommerszeit,
was einst in langer Winternacht
das alte Buch mir kundgemacht,
das schallte laut in Waldespracht,
das hört ich hell erklingen:
im Wald dort auf der Vogelweid’,
da lernt’ ich das Singen.“
Ein Leckerbissen für Beckmesser: „Oho! Von Finken und Meisen lerntet
Ihr Meisterweisen?“ Das geht munter so weiter, Sachs ist fasziniert, Beckmesser
kämpft, die Meister sind verwirrt.
Durch Sachsens Einsatz und von Pogner protegiert kommt der merkwürd’ge
Fall zum Zuge. „Für dich, Geliebte“ darf und will er auf den
Prüfungsstuhl. Aber gemach, nicht gleich lossingen, die Unterbrechung fehlt
noch: Erst kommt die zweite Belehrung. Während David eifrig präsentiert
hat, was und wie viel (!) er gelernt hat, wird Stolzing jetzt hochoffiziell
mit den Gesätzen vertraut gemacht. Das erreicht ihn zwar erst recht nicht,
aber uns: Bäcker Kothner läuft hochkomisch zu Bestformen auf und die
Wichtigkeitsinszenierung bietet für Aug und Ohr wieder Bühnengenuss
im Detail.
Nun aber! Beckmesser tritt wichtig sein Merkeramt an, ein saures diesmal. Denn
da gibt es keinen Zweifel: dieser Heißsporn wird Fehler über Fehler
machen, und der Merker kreidet Fehler an, wortwörtlich. „Sieben Fehler
gibt er Euch vor“, aber dann heißt es versungen. Lächerlich!
Die Tafel wird nicht reichen, die Kreide wird nicht reichen. „Fanget an“,
ruft er gottergeben die Aufforderungsformel zu eines jeden Meistergesanges aus
seiner Merkerbude. „Fanget an“, greift der unerschrockene Junker
die Formel auf und sofort schießt Beckmessers Kopf aus dem Merkervorhang,
Entsetzen und Empörung in allen Zügen.
(Eine kleine weitere Sängerhuldigung sei hier eingeschoben: Eike Wilm
Schulz gestaltet Beckmesser in allerfeinsten Feinheiten. Sein Stadtschreiber
ist komisch und tragisch und lässt keinen Zweifel, wie sehr auch er zu
kämpfen hat mit Herzschmerz und all den Facetten der Selbstwertgestaltung.
Meine eine Opernfreundin, die als bühnenerfahrene Schauspielerin sehr kollegenkritisch
ist, bricht ständig neben mir auf dem Opernsofa in Beifallsstürme
aus. Und singen kann er auch.).
Zurück zum singenden Stolzing, der, einmal angefangen, sich wie gehabt
jubelnd verliert in einem Schwall aus Lenzesbeschwörung und Glockengeläut.
Während die Meister fassungslos den Improvisationskünsten des Troubadourwildwuchses
lauschen, geht Sachs das Herz auf. Der Junker ist lebende Poesie. Hier singt
ein Genie. Spontan ist der, intuitiv und schnell. Zielsicher greift er nicht
nur blödespröde Eingangsformeln auf, sondern verarbeitet Aktion und
Reaktion der aufgebrachten Zuhörerschar zu Sangeskunst. Diese Kunst lebt!
Sachs begeistert sich, die Brautpreisproblematik scheint vergessen, seine Augen
leuchten, es hält ihn nicht auf dem Platz. Mutig singt der junge Mann gegen
die grellquietschende Kreide von Beckmesser an Aber es kommt, wie es kommen
muss, er schwelgt im Anlauf und hat versungen, bevor er überhaupt beim
Sujet seiner Gesangskunst angekommen ist, in diesem Fall der Frauen Lobpreisung.
Beckmesser spricht das Urteil: „Singt wo ihr wollt! Hier habt Ihr vertan!“
und aller Kampfesbereitschaft zum Trotz endet alles im ersten der schon erwähnten
drei Tumulte. Nach einer letzten Runde Sängerkrieg (das wird laut: man
versteht kein Wort, alle singen für die eigene Sache engagiert durch- und
gegeneinander) verlässt Stolzing mit stolz-verächtlicher Gebärde
die Versammlung und hat schlichtweg die Nase voll vom offiziellen Weg zu seiner
Braut.
III. „Die Meisterregeln lernt beizeiten“
Doch einen Morgen später ist alles ganz anders. Kaum aufgewacht von einem
wunderschönen Traum, und das auch noch in des Schusters Haus, beginnt die
dritte Belehrung. Diese allerdings ist eine pädagogische Meisterleistung,
darum kriegt Stolzing nicht mit, dass er belehrt wird und kann in Ruhe lernen.
Er ist aber auch gebeutelt, die Aufregung nimmt kein End. War das ein Theater
gestern Nacht! Das wonnige Weib in seinem Arm ist bereit, ihm allem bürgerlichen
Anstand trotzend zu folgen egal wohin, Hauptsache weg vom Meistergericht –
welch Glückseligkeit. Doch sie liegen eingeklemmt unter einer Linde und
können nicht vorwärts und nicht rückwärts. Der verrückte
Schuster sitzt mitten auf der Gasse und klopft lautstark irgendwelche Schuhsohlen
platt, dröhnt dazu ein anzügliches Lied über seine Eva, während
ausgerechnet Merker Beckmesser geschniegelt und geschnackelt unter Goldschmiedtochters
Fensterlein auf einer Laute klimpert und schräges Zeug singt. Die Wörter
werben und erben fallen jedenfalls auffallend häufig. Wie schlau, dass
Eva Lene ans Fenster gesetzt hat. Dann kriegen sich die beiden Herren Meister
tüchtig in die Haare, der Sachs hämmert dem Troubadour-Möchtegern
das ganze Ständchen kaputt, davon muss ja der Rest der Welt wach werden.
David als erster. Er stürzt sich auf den vermeintlichen Nebenbuhler, und
dann stürzen sich alle aufeinander, die ehrwürdigen Meister prügeln
mit, die Gesellen prügeln mit, die Ehefrauen prügeln mit, die Lehrbuben
johlen (Tumult zwei im zweiten Aufzug).
Jetzt ist Johannistag-Morgen, Stolzing steht beim Schuster in der Stube, der
hat ihn gestern Nacht aus dem Gewühl schlichtweg ins Haus gezogen und in
ein Kämmerlein verfrachtet. Ganz freundlich begrüßt
der ihn, will sogar seinen Traum hören. Evchen muss sich täuschen,
wenn sie meint, der wolle ihnen Übles.
Genau. Tatsachen schaffen und die Autorität bündeln. Sachs sucht
des Junkers Vertrauen als väterlicher Freund. Bevor die jungen Leute Unsinn
machen, macht Sachs lieber einen Meistersinger aus Stolzing. Damit möglichst
die Niederlage vom Vortag nicht berührt wird, soll er einfach erzählen.
Genauer: Den Morgentraum soll er singend verdichten.
„Mein Freund, das grad’ ist Dichters Werk,
dass er sein Träumen deut und merk’.
Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
Wird ihm im Traume aufgetan:
All Dichtkunst und Poeterei
Ist nichts als Wahrtraumdeuterei.
Was gilt’s, es gab der Traum Euch ein,
wie heut’ Ihr Meister solltet sein?“
Nein, also mit Meistern will der Junker nichts mehr zu tun haben, Da heißt
es für den Schuster, erst einmal beruhigen, den Stand der Dinge klären,
Solidarität herstellen, indem man Schwächen preisgibt, was die ehrwürdigen
Meister angeht:
Ihr habt’s mit Ehrenmännern zu tun;
Die irren sich und sind bequem,
dass man auf ihre Weise sie nähm’.
Wer Preise erkennt und Preise stellt,
der will am End’ auch, das man ihm gefällt.
Eu’r Lied, das hat ihnen bang gemacht:
Und das mit Recht: denn wohlbedacht,
mit solchem Dicht- und Liebesfeuer
verführt man wohl Töchter zum Abenteuer;
doch für liebseligen Ehestand
man andre Wort und Weisen fand.
Kluger Schachzug. Sachs weiß Bescheid um Eva-Entführung und Schlimmeres,
aber kommt nicht mit Moral und Vorwurf. Keine Umwege über Gesichtsverlust-Zumutungen,
sondern direkt zum Ziel auf dem braven Weg ins Glück: denn letztlich geht’s
doch wohl um Ehestand. Ehestand aber hat eine Eintrittskarte: das Meisterlied.
Da kommt der Junker wegen des „nie “ nicht dran vorbei. Das muss
überzeugen, der Junker ist bereit: Wie fang ich nach der Regel an? Sachs:
Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann. Ein Genie lernt Regeln nicht. Es entdeckt
sie in sich.
Ehestand ist das Ziel, ja doch: Und damit es über all die Poeterei nicht
verloren geht, argumentiert Sachs gleich weiter mit einleuchtenden Vokabeln:
Der erste Stollen ist Mann, der zweite Frau und fruchtbar werden sie im Abgesang,
dem Kind
Das macht Sinn, rein praktisch und eben auch grundsätzlich aus menschlicher
Weisheit heraus. Die Dreieinigkeit ist Metaphysik, eine heilige Formel: Vater,
Sohn, Heiliger Geist – These, Antithese, Synthese – blau, rot, gelb.
Vater, Mutter, Kind. Ein Prinzip.
Frei vom wichtigen Lehrerklimbim hin zu den grundsätzlichen Schöpfungsprinzipien
unserer Welt: Der Lehrer erkennt sie Der Schüler erkennt sie. Eine Meisterstunde.
Learning by doing, heißt die neudeutsche Formel, Wagner gestaltet es
poetischer. Die Morgentraumdeutweise wird geboren, erst ein Mal, dann noch einmal,
dann noch einmal, immer wieder, gleichbleibend in der Form und doch sich entwickelnd.
Was hier beginnt, überwältigt auf der Festspielwiese Bursche wie Meister,
Mann und Frau, jung und alt. Es ist einfach wunderwunderschön. Sachs setzt
sich durch, Stolzing singt, das unbelehrte Volk spricht:
„Gewiegt wie in den schönsten Traum,
hör ich wohl, doch fass es kaum.
Reich ihm den Reis! Sein sei der Preis!“
Es ist so wunderschön, dass auch wir auf dem Opernsofa in die Melodie
versinken und es gar nicht mehr stört, dass wir immer noch Schwierigkeiten
haben, es zu verstehen. Wenn der von mir sehr geschätzte Musikkritiker
und Wagnerliebhaber Joachim Kaiser gesteht, er habe Jahre gebraucht, um im ersten
Stollen überhaupt ein Satz-Subjekt zu finden, kann ich ja wagen zu berichten,
was ich bisher begriffen habe:
Es geht um einen Garten, in dem es einen Baum gibt, ein Weib und eine Quelle.
Es geht um Morgen und Abend und Nacht, um Sterne, Parnass und Paradies. Und
diesem schönsten Weib, Eva im Paradies gelingt es, dass der erwachte Träumer
in einen zwar huldreichsten Tag erwacht, aber eindeutig lichten Tag der Sonnen.
Das lässt auf Alltagstauglichkeit hoffen mit hoffentlich nicht verlorener
aber gut geerdeter Poesie.
Sachs ist ein Meisterlehrer.
Gesätz III: Vor dem Werden ist das Sterben
I. „Was mit den Männern doch Müh ich hab!“
Opernbegeisterten im Allgemeinen und Wagnereingeweihten im Besonderen sind
wahrscheinlich einige meiner Formulierungen vertraut. Irgendwie fliegen sie
mir wie kleine Vögelchen einfach in den Text hinein, wohl weil sie mich
erinnern und irgendwie alles immer wieder auftaucht, vor allem solche Themen
wie Töchterausverkauf und tödliche Lieben. Wir finden in den Meistersingern
Tannhäuser wieder (auch da ein Sängerstreit mit FraugleichPreis aber
tödlichem Ende für das Paar, das kein Paar werden darf wegen der anti-minniglichen
Erotik) und Lohengrin (tödliches Ende für das Paar, das kein Paar
werden darf, weil Elsa ihren Retter nicht fragen darf, wie er heißt und
woher er kommt und es doch tut) und Walküre (ein junges Paar auf der Flucht,
weil leider ihre Liebe gegen elementare Regeln verstößt, Ehebruch
und Blutschande sind auch in altgermanischen Zeiten eine Nummer zu groß,
das ganze endet tödlich). Tristan&Isolde arbeitet Wagner sogar ausdrücklich
in die Meistersinger hinein (sehr berühmtes tödliches Ende für
das Paar, weil Isolde verheiratet mit dem älteren König Marke ihrem
einfach vorangestorbenem Tristan schicksalsmächtig nah nur im Hinterhersterben
sein kann).
Nein, Evchen darf mit ihrem Walther von Stolzing überleben, und das auch
noch vom Vater begrüßt und vom Volk bejubelt ganz normal in eine
Ehe mündend.
Eva Pogner ist keine „tragische Wagner-Heroine“, sondern ein fröhliches
junges Mädchen ohne größere Probleme. Als das „verwöhnte
Millionärstöchterlein“, wie Kaiser sie nennt, ist sie standesgemäß
selbstbewusst und gewohnt, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen. In
erster Linie ist sie einfach jung. Sie ist ungefähre siebzehn (Gruß
vom Rosenkavalier), steckt in deutlich zu engen Mädchenkleidern, hat schlichtweg
keine Ahnung von der Liebe, dem Sex und der Ehe. Sie ist ganz normal jung und
auf dem Weg zur Frau und hat ohne mütterliche Einweisungen und Warnsysteme
eine Lene an der Seite, die die Spielregeln zwischen Mann und Frau nicht grad
tiefsinnig hinterfragt. Lene ist sehr beschäftigt mit ihrem David, ungefähre
dreißig, lebenslustig, attraktiv und handfest. Ute Walther singt und gestaltet
herzerfrischend lebendig eine Frau, die einen halben Kopf größer
selbstbewusst ihrem jüngerem Verlobten voraneilt. Eine Freundin ist sie
Evchen, beide bemuttern den Vater, der Sachs von gegenüber ist ein FreundVater,
es geht halt alles ein wenig durcheinander.
So muss es nicht verwundern, dass das „Ich-bin-ein-Preis-Abenteuer“
in Evas Kopf ein Abenteuer bleibt, dass genau bis zum Johannistag reicht und
keinen Tag weiter: das richtige Kleid, das richtige Paar Schuh, das Rampenlicht,
die Wichtigkeit. Es ist ein Spiel. Ein herrlich aufregendes, und so romantisch!
Und das Leben gibt ihr Recht: Ein echter Ritter, so herrlich, so schön,
so lebendig, so stark, so leidenschaftlich und so pünktlich zum Wettgericht
tritt er in ihr Leben. Natürlich wird er der Sieger, denn Evchen hat ihn
schon gekürt: „Euch oder keinen!“
Er ist ihr durchaus nicht fremd, er ist ein Mädchentraum. Wie Senta ihren
Holländer (endet tödlich), so hat auch sie ihren Ritter schon im Bild
gesehen:
„Das eben schuf mir so schnelle Qual,
dass ich schon längst ihn im Bilde sah!
Sag, trat er nicht ganz wie David nah?“
Nicht Lenes David (die bekommt schon einen Schreck!), auch nicht der König
David mit der Harfe aus dem Meistersingeremblem (was einen humoristischen Prognosewert
enthält), sondern der David aus dem Dürerbild, der beziehungsreich
den Goliath besiegt.
Natürlich wird ihr Held siegen! Für das Kind gibt es keine Zweifel.
Niemand rät ihr zu vorsichtigem Umgang mit Mädchenträumen. Doch
ihr Held fällt durch, Kinderglauben wird erschüttert und ihr Frauenleben
beginnt von einem Moment auf den anderen.
Dieser Moment ist in der fünften Szene des zweiten Aufzuges. Grad hat
Evchen eine Szene vorher einen völlig veränderten Sachs vorgefunden.
Sie will nur herausbekommen, was sich Entsetzliches abgespielt hat in der Singschule.
Der hat mich lieb!, darauf war immer Verlass, aber Sachs schustert an Beckmessers
Freier-Schuhen herum und stellt sich schrecklich dumm und benimmt sich gar nicht
fein: Wo sie doch dem Junker auf der Spur ist und dann erfahren muss, dass es
nur einen Bewerber gibt, Junggesellen sind rar unter den Meistersingern! Beckmesser
ist einziger Freier? Hilfe tut Not: Ach was „Junggesell … Könnt’s
einem Witwer nicht gelingen?“ - Sachs wäre ihr allemal lieber als
der alte Hagestolz Beckmesser. Wie bitte? Sachs sagt nein? Wo er sie doch schon
als kleines Mädchen gern auf den Armen trug? Wo sie so schmeichelnd fragt?
Sie ist hübsch adrett und eine Braut in spe, was stimmt nicht mit ihr?
Was regt er sich so auf und weist sie wie ein Kind zurück? Und anstatt
sich zu entspannen, weil es eh um einen ganz anderen geht, wird er noch wütend:
„Den Junker Hochmut, lasst ihn laufen …“
Zurück in die dritte Szene, zu dem Moment, in dem Evchen Eva wird: Ihr
Ritter tobt schwertschwingend beim Gedanken an die Meisterbuhlen, die ihn demütigen
und seine Braut lüstern umzingeln. Wie wir es erwarten, nimmt sich diese
Wut wortreich, lautstark und lange viel Raum, und als er erschöpft zusammensinkt,
weiß sie, was zu sagen ist: „Geliebter, spare den Zorn.“ Ihr
Entschluss steht fest: sie wird mit ihm fliehen.
Einfach und wirkungsvoll. Ihr Gesicht verändert sich, ihre Stimme verändert
sich, ihr Körper kommt zur Ruhe. (Endlich, murmelt meine Schauspielerfreundin,
die sowieso einen seltsam kritischen Blick auf sie hat. Wenn die den Mund beim
Singen mehr aufmachen würde und dafür beim Staunen mehr zu …
solche Sachen brummelt sie ständig vor sich hin. Aber das kann auch daran
liegen, dass wir ungefähr dreimal so alt sind wie Evchen und auf dem kleinen
Bildschirm ein wohlvertrautes Thema verfolgen können).
Zurück zu der jungen Eva. Sie liegt im Arm des Liebsten versteckt unter
der Linde, denn Sachs hat schlichtweg den Fluchtweg abgeschnitten. Das Frausein
beginnt nicht einfach: Beckmesser baut sich vor ihrem Fenster auf, Sachs singt
mitten auf der Gasse ein zünftigherbes Schusterlied, der junge Mann nutzt
die Zwangslage für aufregende Dinge, ihr Körper glüht. Und dem
Schuster traut sie grad gar nicht über den Weg. Doch etwas will sich bemerkbar
machen, hartnäckig, dem Schmerzkeim in Sachsens Brust sehr ähnlich.
Da war etwas in seinem Blick vorhin, auch sie kann es nicht fassen. Und weh
tut es, wenn er dieses Lied singt, das sie doch ewig kennt, über Eva, der
die Füßchen schmerzen, als sie mit Adam aus dem Paradies fortläuft
und Schuhe braucht.
Wieder wird sie es in seinem Blick finden, was sie nicht fasst, als sie nächsten
Morgen in der Schusterstube nach ihrem Junker sucht und so tut, als drückten
die Schuh und Sachs vor ihr kniet. Da ist es schon beinah zum Greifen nah, aber
es lässt sich nicht halten … dafür mischt sich ein anderes Gefühl
hinzu: Die Glückseligkeit, dem Lied des Liebsten zu lauschen, ist zwar
überwältigend, aber sie … schämt sich.
Einen Meistersinger hat Sachs über Nacht gezaubert, Unrecht hat sie dem
väterlichen Freund getan und ausgenutzt fühlt er sich zu Recht. Ist
das ein furchtbares Gefühl! Sie spürt, wie lieb sie ihn hat und muss
in seine Arme und will gar nicht mehr raus aus seinen Armen. So sehr ist sie
ihm dankbar. Und sie muss es ihm sagen: wenn es auch nicht ganz fein war, ihn
als Beckmesserverhinderungswerber zu wollen, sie „war doch auf der rechten
Spur“: sie würde ihn wählen zum Gemahl, hätte sie die Wahl.
Ganz sicher! Aber sie hat keine Wahl mehr, dass versteht er doch: „Doch
nun hat’s mich gewählt“.
Wie froh ist sie, dass Sachs sich beruhigt, wieder beinahe der Alte wird. Da
ist zwar was mit der Geschichte über diesen König Marke, aber es geht
alles so schnell, sie soll jetzt singen, ihres Liebsten Meisterlied taufen.
Ihr Herz wird riesengroß und die Erleichterung auch. Da ist endlich der
väterliche Segen für ihre Liebe und sie singt sich in beides hinein
ohne wenn und aber.
Ob ihr auffällt, was wir hören können, wenn das betörend
schöne Quintett erklingt, in der das getaufte Kunstkind zwei Paaren das
Liebesglück verspricht und einen Mann sehr einsam macht? Verstehen kann
man nie viel, wenn alle gleichzeitig singen, aber bei aller Seeligkeit der jungen
Liebenden sind des Schusters Worte die ersten, die auf Evas Melodie antworten,
sie fortführen und tragen.
Nein, die junge Frau braucht noch einige Blicke in seine Augen ein wenig später
dort auf der Festspielwiese. Sie braucht den Gänsehautmoment, als Sachs
sie grüßt. Sie braucht seinen gesenkten Kopf, und einen ersten Zweifel
an dem Liebsten, der alle brüskiert. Sie braucht die gewohnt souveränen
Reden des Schusters, der alles richtet und nicht versäumt, sie zu würdigen,
Kunst hin und deutsche Lande her. In aller Öffentlichkeit ehrt Sachs sie
als Frau und erklärt: „wie kann die Kunst wohl unwert sein, die solche
Preise schließet ein?“ Das ist mehr als einfach nur lieb haben.
Und mit einem Mal ist es klar: Sachs ist ein Mann. Ein Mann, der sie begehrt.
Und ein attraktiver dazu.
II. „… als bedürft’ger Mann … Da gibt’s
Geschlamb und Geschlumbfer.“
So ist es: David weiß es, Beckmesser weiß es und die Lehrbuben
johlen es auf der Gasse, nur Sachs singt vom Flieder. Gewiss, er ist wirklich
ganz benommen von dem Auftritt des mutigen jungen Mannes. Da gibt es kein Vertun,
der kommt wie aus anderen Zeiten. Sachs hat seine Dichterwurzeln nicht in Minnesang
und Ritterwelten, sein Boden ist Nürnbergs zünftige Handwerkerwelt.
Das setzt Grenzen. Aber fühlen kann er das Genie. Und die Quelle spüren,
aus der es schöpft:
„Lenzes Gebot,
die süße Not,
die legt es ihm an die Brust:
nun sang er, wie er musst’!
Und wie er musst’, so konnt er’s.“
Der Junge ist verliebt! Wie man nur verliebt sein kann, wenn man jung ist.
Viel jünger eben als er. Und natürlich geht es im Kopf herum, dass
Evchen einen Bräutigam braucht. Verdammt. Beckmesser soll sich besser auf
seine Freiersfüße konzentrieren, wird schon früh genug auf die
Schnauze fallen! als ihm zu unterstellen, dass er, Sachs, dieses Kind …
Dieses Kind, ja, wahrlich gar groß und schön gewachsen, kann sie
ihr Brusttuch nicht mal festhalten und einfach stillstehen? Und macht ihm noch
blauen Dunst, werben soll er um sie, als Platzhirsch gegen den Beckmesser, was
denkt die sich denn? Die denkt sich gar nichts, die hat was im Sinn, das spürt
er doch gleich. Aber nie hätte er gedacht, dass so ein Gefühlschaos
in ihm tobt, als ihm endlich klar wird, dass sein Evchen der Quell des Junkers
ist. Wütend wird er, verliert sogar kurzfristig die Fassung, verschrickt
das junge Ding. Die kann doch gar nichts dafür, ist doch ganz natürlich
und auch an der Zeit, wie hat er das bisher übersehen können, was
da herangewachsen ist.
Diese vielen Gefühle, er haut sie mit dem Hammer in Beckmessers Schuh
und haut sie mit dem Schusterlied den jungen Leuten um die Ohren, ha!, wie passend!
Die meinen, er wisse nicht, dass sie da unter der Linde poussieren? Wie gut
es tut, zu hämmern und zu grölen, das löst die Gefühle,
macht den Atem frei. Der arme Stadtschreiber kriegt es doppelt und dreifach.
Aber wie ist der Kerl auch dämlich, hat er’s denn so dringend?
Ihm kommt es zupass, das lenkt erst einmal ab, bringt sogar Spaß, was
singt Beckmesser sich da bloß zurecht! Sachs kommt wieder an bei gewohntem
Witz und klarem Kopf, Beckmesser aushebeln, die Flucht verhindern, den Junker
aus dem Verkehr ziehen. Das Herz beruhigen.
Aber dann packt es ihn wieder, er kann David kaum ertragen mit seinem heruntergeleierten
Johannistag-Sprüchlein und dem unbekümmerten Liebesgetue. Die Maulschelle
zum Gesell’ später fällt mächtig grob aus. Der wird jetzt
seine Lene heiraten, der nimmt sich, was er braucht. Lass die anderen doch singen
und spotten, David liebt die Jungfer, die ihn füttert und tröstet
und zeigt, wo es lang geht. Aufgehoben in seinem schlichten Gemüt machen
die paar Jahre doch kein Problem. Und dieselbe Schlichtheit scheint vor Intelligenz
nicht zurückzuschrecken, denn Beckmesser stört es auch nicht, dass
das Mägdelein deutlich jünger ist. Mensch, Sixtus Beckmesser, dem
wäre er in der Schusterstube beinah an die Gurgel gegangen, weil der so
verdammt Recht hatte.
Was fällt Ihnen ein, Herr Beckmesser - ihm so Nahezutreten. Trägt
er es denn im Gesicht? Er hat es gesagt und er hat es gemeint: Er freit nicht
um das Kind. Nein, Beckmesser kann nicht wissen, wie es in ihm aussieht, der
weiß überhaupt nicht, wie es in irgendjemandem aussieht. Der wittert
nur nach Konkurrenten und baut sich grad die größte Falle selbst,
mit seinem Einbruch und dem Meisterlied in der Tasche. Was macht die Angst doch
die Menschen berechenbar.
Was macht der Schmerz doch unberechenbar: David in seiner liebenswürdigen
Unbedarftheit ist gar nichts gegen die erbarmungslose Arroganz der jugendlichen
Selbstverliebtheit, wenn man verliebt ist: „Doch wenn dem Lenz schon lang
entronnen … “, so etwas geht dem Junker locker von den Lippen. Die
im Alter nach konserviertem Liebesleben bedürft’gen Meister machen
in des Junkers Wahrnehmung vor dem Schuster nicht halt.
Komm, Junge, diktier dem altem bedürft’gen Mann Liebesfeuer in die
Feder. Das ist eine Lehrstunde vom Feinsten für jugendliches Ungestüm
und gleichzeitig eine Rosskur für ein schmerzendes Herz … manchmal
allerdings müssen die Hände den Kopf festhalten ...
Wer hätte gedacht, wie lang der Weg ist. Man glaubt, man hat es schon
hinter sich, die Einsicht ist doch im Kopf, wo will sie denn noch hin? In immer
tiefere Orte? Der Morgen am Johannistag hat es in sich, verdammt viel Traurigkeit,
diese Melancholie, das Herz tut weh, dann Davids Auftritt, dann Beckmessers
Auftritt, dazwischen der Junker mit seinem Lied.
Andrerseits: wie gut hat es getan, Kraft und Wissen zu lenken in dieses ungebündelte
Schöpfungsgenie! Wie gut, die Souveränität wieder neu zu spüren,
und einfach so tiefe Freude an des Junkers Können zu haben. Ehrfurcht zu
empfinden vor göttlicher Kunst. Da kommt auch Lust auf für den letzten
Streich, den Stadtschreiber lassen wir hineinrennen in die Niederlage mit dem
geraubtgeschenktem Lied und den Junker führen wir zum Sieg!
Und mitten hinein in die errungene Souveränität kommt Evchen im noch
engeren Festtagskleid, mein Gott, weiß sie nicht, wie sie aussieht? Was
es macht, ihr Drehen und Wiegen, der Fuß auf dem Schemel, die Nähe
zu Lippen, Aug und Brust?
Nein, Evchen weiß es immer noch nicht. Aber wir wissen es. Die sowieso
kritische Freundin neben mir brummelt prompt: die Pelle platzt gleich. Und die
andere Freundin auf dem Opernsessel (auch Rosenmuster und Löwenfüße)
verschluckt sich fast am Rotwein: sie leidet seit gut fünf Jahrzehnten
an einem Wahn, an dem diese Eva nicht leidet, nämlich dass die Attraktivität
einer Frau ab fünfundfünfzig Kilo aufwärts vorbei ist. Mir kommt
eine Liedzeile von Konstantin Wecker in den Kopf, in der dieser lustvoll die
Vokabel „fleischlich“ nutzt Das meint nichts gegen die Sängerin
Eva Johansson. Sie ist und singt ein wundervolles Evchen. Eben jung und unbefangen
und im ewig alten Spiel, das einer jeden Eva eingeboren ist. Sie ist sinnlich
und lebendig und reizend, eine Art Brigitte Bardot aus Alt-Nürenbergs Stuben.
Nein, das sagt einfach etwas aus über ihr Alter und unser Alter. Wenn
wir die jugendliche Konkurrenz dreieinig vom Bildschirm beißen, sagt das
auch etwas aus über die Attraktivität des Mannes, um den es sich dreht.
In einem Interview definiert Brendel seinen Sachs als „voll im Saft“,
Das ist zu sehen, da täuschen weder die Pantoffeln noch die biedergemütliche
und bemerkenswerte Wäsche unter der Schusterschürze. Der Schuster
ist ein Mann in sogenannt besten Jahren und sicherlich mit allen Sinnen und
Kräften in der Lage, Evchens Reize wahrzunehmen.
Allem seinem „Ich-freie-nicht“ zum Trotz fährt er sich durch
die Haare, die in alle Richtungen stehen, rückt die Hosenträgerhosen
zurecht und ist aufgeregt wie junges Blut, als Evchen mitten hinein kommt in
die neu errungene Souveränität.
„… Ei, wie herrlich
und stolz du’s heute meinst!
Du machst wohl alt und jung begehrlich,
wenn du so schön erscheinst.“
Ich kenne keinen Sänger, der „schön“ so schön singt
wie Wolfgang Brendel. Doch sie hört und sieht ihn nicht. Sie sucht ihren
Liebsten. Da hilft weder ein atemlos langer Blick noch unsere Sofa- und Sesselperspektive
noch alle Attraktivität. Für sie ist er als Mann unsichtbar.
III. „an der Pegnitz hieß der Hans!“
Als sie in der vierten Szene des dritten Aufzuges der Morgentraumdeutweise
ihren Namen geben, stirbt Sachs seinen letzten kleinen Tod. Evchen beginnt zu
singen wie wahrlich im Paradies, ihre Antwort ist eines Meisterliedes mehr als
würdig. Er muss es endgültig in alle seine Tiefen nehmen: sie gehört
zu dem Junker. Und in den Schutz des Quintetts hinein, da ihn ja doch keiner
versteht, da kann er es auch formulieren:
„Vor dem Kinde lieblich hold
möchte ich gern wohl singen.
Doch des Herzens süß Beschwer
galt es zu bezwingen.“
Er ist durch. Grad rechtzeitig. Einfach ehrlich sein. Nach dem Erkennen kommt
das Benennen. Er ist nicht mehr der Alte und will es auch nicht mehr sein.
Nach einem letzten kleinen Amoklauf kann er sie jetzt lassen. Die Selbstachtung
ging beinah mit in die Knie, Gott sei gedankt für seine Kraft, mit Witz
die größte Offensichtlichkeit umzulenken in eine Art Flucht nach
vorn. Aber es musste einfach raus, alles, auch die vermeintlichen Kränkungen
mussten Worte werden. Regeln hat er gebrochen, seine Sehnsüchte und seine
Schmerzen preisgegeben, über alle seine Maßen hinaus. Einfach in
des Junkers Lied hineingeschimpft, nur um die Selbstversunkenheit des Liebespaares
zu stören. Schwerer noch als seine Unsichtbarkeit sind Evchens Umarmungen
auszuhalten. Und dann ihre lange Erklärung - mit viel Gefühl, zweifelsohne,
aber väterlicher kann ein Platz nicht sein als der, den sie ihm zuweist.
Deutlicher kann sie ihre Zugehörigkeit nicht machen. Ihre Liebe zu Stolzing
nämlich, „das war ein Müssen, war ein Zwang“.
Sein „Es-gibt-mich!“ hat den letzten Raum aufgebrochen, in dem
noch Schmerz eingesperrt war. Es war auch wie ein Zwang, er konnte es gar nicht
bremsen. Es ist nicht der Verzicht auf Eva, es ist viel mehr. Es ist der Abschied
eines Selbstverständnisses. Er muss sich neu zur Welt bringen.
Wenn Wagner eine komische Oper schreibt, bleibt sie doch eine Wagneroper. Wobei
vokabelpuristisch zu bedenken sei, dass Wagner keine Opern komponiert, sondern
Musikdramen oder Weihefestspiele in Wort und Musik gestaltet. Aber ob Lustspiel
oder komische Oper, Wagner kann einfach nicht einfach unterhalten. Er verarbeitet
Welt und sich, sei es komisch oder tragisch. Dreiundzwanzig (!) Jahre Lebenserfahrung
und die Gleichzeitigkeit mit der Arbeit an dem Ring und Tristan&Isolde stecken
in den Meistersingern und damit auch die Begegnung mit der jungen und verheirateten
Mathilde Wesendonck. Hier findet eine weitere Überwindung ihrer Liebessehnsuchtsgeschichte
statt. Wagner erholt sich von den tiefen und eben auch schmerzberührenden
Auseinandersetzungen mit seinen äußeren, inneren und künstlerischen
Dramen. Er verarbeitet seine Themen auf einer anderen Ebene noch einmal, die
er mehrere Meisterwerke lang schon mehrere Male verarbeitet hat. Wie wir es
ja auch machen im Kleinen und Privaten. Immer wieder, das ganze Leben und möglicherweise
viele Leben hindurch.
Sachs führt das vor, er marschiert nicht gradlinig durch seinen Konflikt
und löst ihn. Nein, er kreist ihn ein, er kreist in seine Tiefen. Immer
wieder eine neue Schicht, derselbe Schmerz an neuem Ort. Doch der Schuster kommt
zum Ziel, denn am Ende aller Einsichten und dem letzten Ausbruch hat er es geschafft:
Er hat sich entschieden. Das löscht nicht die Gefühle! Muss er doch
sogar zum Schluss noch dem Junker Hochmut den Kopf waschen, in aller Öffentlichkeit,
was fällt ihm ein: die Meister zu verachten nach dieser meisterhaften Unterweisung
durch ihn, Meister Sachs: „Verachtet mir die Meister nicht!“. Das
tut gut. Sachs ist wieder sichtbar. Aber vorher hat er losgelassen wie es ihn
losgelassen hat.
Das geschieht noch am Johannistag-Morgen. Wagner stellt den Menschen und Komponisten
Wagner in die Schusterstube. Das ist dreifacher Werkstatt-Humor, der die Tragik
transformiert, ohne sie zu negieren oder gar lächerlich zu machen. Durch
Sachs bringt er sich neu in die Welt.
Die Tristanmusik erklingt ausdrücklich, antithetisch lässt Wagner
die jungen Liebenden am Zwang ihrer Liebe nicht sterben und Sachs klüger
sein als König Marke.
„Mein Kind, von Tristan und Isolde
kenn ich ein traurig Stück:
Hans Sachs war klug und wollte
nichts von Herrn Markes Glück.
‚s war Zeit, dass ich den Rechten fand
wär’ sonst an End doch hingerannt.“
Wieder einer dieser kostbaren Opernmomente. Sachs sitzt ganz am Rand in seiner
Schusterstube auf der Bank, erschöpft an die Wand gelehnt, jetzt kniet
Evchen vor ihm, hat sich noch einmal in seine Arme gedrängt. Und wenn er
dann einen scheuen Kuss auf den Blondkopf drückt, bevor er sich losreißt,
liegt in diesem Kuss alles: die wieder errungene Autorität, Wut, Weisheit,
Scham. Trauer. Eine ganze Welt Intimität in einer Sekunde. Abschied. Liebe.
Das wirklich letzte Mal am Ende der Oper stößt er sie weder in des
Junkers Arme noch reißt er sich los. Er wendet sich ab, auf der Festspielwiese,
wir kennen die Geschichte. Gleich wird er Beckmesser auf die Schulter schlagen.
Evas Blick auf ihn sieht er nicht mehr. Die Oper ist zu Ende. Das Leben nicht.
Johannistag ist Hans Sachsens Namenstag. Die Oper beginnt mit einem Choral
über Johannes den Täufer. Davids Sprüchlein handelt auch vom
biblischen Wegbereiter des Herrn. Eine Meisterweise ist geboren und wird getauft.
Ein Mann bringt sich neu in die Welt, indem er hinter einen anderen zurücktritt.
Das Thema ist vielschichtig eindeutig.
Denn es ist weder klug noch weise, einem jungen Mädchen hinterher zuträumen,
es gar zu ehelichen. Nicht, weil Eva in heller Liebe und erotischem Feuer zu
dem Schicksalsmann entbrannt ist, heißt er Adam, Tristan oder Walther.
Nein, das Alter passt nicht. Das ist leicht, wenn man es weiß. Es ist
schwer, wenn man sich dazu entscheidet.
Jetzt kennen wir den Tumult im gesenkten Kopf. Des Junkers Sieg ist des Schusters
Niederlage. Aber nur in einer Hinsicht. In einer gar nicht mehr so wesentlichen.
Seine Niederlage ist sein Sieg. Und umgekehrt. Und im Spiegel innen und außen
noch mal umgekehrt. Man muss er nur tief genug verstehen. Es ist eine Meisterschaft.
Sachs ist was er war: ein Schuster und Poet. Aber eben neu.
Ausklang
Ich sehe die Oper noch einmal, diesmal allein. Jetzt ist sie so vertraut, ich
genieße das Gleichgewicht. Die Lust am Theater, das Komische, das Tragische.
Einhalb mal lustig, einhalb mal traurig: Mir fällt die Marschallin aus
dem Rosenkavalier ein, hier die Geschichte einer Frau, die bewusst ihren einhalb
mal so alten Liebhaber in die Arme einer Sechzehnjährigen manövriert.
Immer wieder heißt es Abschied nehmen, damit Neues kommen kann. Manchmal
sind es nur Liebesgeschichten, manchmal sind es Lebensentwürfe. Ich fühle
mich gut aufgehoben in diesen Opernwelten.
Wir können uns entscheiden, wie wir Hürden nehmen. Männer begehren,
Frauen begehren das Begehrtwerden. Das wird zur Herausforderung, wenn der Körper
nicht mehr jung ist und wir zu alt für junge Körper sind. Aber Liebe
ist mehr als Körper. Sachs hat Evchen wirklich lieb. Sie gehört in
Stolzing Arme, der Lenz, der singt für sie!
Sie dort zu lassen und den eigenen Platz in der eigenen Jahreszeit zu finden
ist mehr als eine poetische Anfrischung, es ist Arbeit in Kopf und Herz. Es
ist errungene Weisheit. Dahin zu kommen öffnet Türen für Neugeburt.
Und macht den Satz meiner Großmutter lebendig: Das Schöne am Älterwerden
ist, dass die Männer mit grauen Schläfen endlich gleich alt werden.
Ich stricke einen neuen Pullover. Für mich.
Meisterstunden mit einem Meistersinger - Was ich gelernt habe ich ganz kurz:
Gesätz I: Opern sind Spiegel
I. Gegen den halten Sie Ihr Herz fest, in den werden Sie sich verlieben.
II. Euch macht Ihr’s leicht, mir macht Ihr’s schwer.
III. Wahn! Wahn! Überall Wahn!
Gesätz II: Wenn viele mitspielen, spielt sich bei vielen viel ab.
I. Ein Junggeselle muss es sein
II. Ein Meistersinger möcht’ ich sein
III. die Meisterregeln lernt beizeiten
Gesätz III: Vor dem Werden ist das Sterben
I. Was macht ihr Männer mir doch für Beschwerden.
II. … als bedürft’ger Mann … Da gibt’s Geschlamb
und Geschlumbfer.
III. an der Pegnitz hieß der Hans
Nachtrag: ein Dankeschönbrief
Lieber Herr Hänselbruder,
Ihr Wunsch, dass ich Ihnen einfach mal das Video leihen soll, nur weil ich
so von dieser Oper und vom Brendel rumschwärme, hat mich dazu gebracht,
mir diese vielen langen Gedanken zu machen. Denn wer als bis dato konsequenter
Opernverweigerer im Ganzen gleich mit den Meistersinger beginnt, braucht eine
Gebrauchsanweisung, dachte ich. Das ist nun draus geworden: im Ordnen der Opernerfahrung
eine Selbstbegegnung. Dafür danke ich Ihnen aus ganzem Herzen! Dass es
so viel wird, habe ich nicht geahnt, aber es war einfach nicht möglich,
weniger zu schreiben. Viel mehr noch hätte ich schreiben können, denn
diese wie eben auch die anderen Lieblingsopern sind ein unerschöpflicher
Quell. Auf dass er auch Ihnen zu fließen beginne wünscht
Ihre Gretelschwester Meike Lalowski
Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg
Inszenierung: Götz Friedrich – Deutsche Oper Berlin 1995
Dirigent: Rafael Frühbeck de Burgos
Wolfgang Brendel, Eva Johansson, Gösta Windbergh Uwe Pepper, Ute Walther
u.a.
Als DVD oder Video oder Cd hoffentlich immer erhältlich!
Für Interessierte hier ein Link: www.wolfgang-brendel.de
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